Mainzer Neustadt: Ein junges, buntes Viertel
„Hier lässt`s sich gut leben“, entfährt es meinem Mann Rainer spontan bei einer unserer Erkundungstouren. Die Mainzer Neustadt mit ihren 29.000 Einwohnern, darunter viele Studierende, versprüht Lebensfreude: Auf Plätzen sitzen die Menschen zusammen und Kinder spielen. Mütter und Väter schieben Kinderwägen durch verkehrsberuhigte Straßen. Überall laden Cafés, Kneipen, Gaststätten – oft mit schönen Außenbereichen – sowie kleine Läden, Galerien und Handwerksbetriebe ein. Hohe Bäume spenden Schatten. Unweit der Innenstadt erwartet Euch ein bisschen Kleinstadt-Flair und gleichzeitig bunte Multikulti-Atmosphäre. Zudem findet Ihr im ehemaligen Arbeiter- und Industrieviertel von Mainz viel Sehenswertes. Wikipedia listet für die Neustadt sieben Denkmalzonen und 169 einzelne Kulturdenkmäler.
Haus mit Loch und Pferde-Gerippe
Das Eingangstor für alle, die mit dem Zug anreisen, ist der im Stil der italienischen Renaissance erbaute Hauptbahnhof. Wir starten auf der anderen Seite des Viertels, vom Rheinufer aus, dort gibt es ausreichend Parkplätze. Dort trennen uns wenige Schritte vom Zoll- und Binnenhafen. Wo früher Handelsschiffe gelöscht wurden, entsteht seit einigen Jahren auf rund 30 Hektar um das Hafenbecken ein neues Stadtquartier mit Wohnungen und Büros. Viele Gebäude sind bereits bezogen, an anderen – vor allem im hinteren Teil – wird noch gearbeitet.
Gleich rechts erinnert der Ziegelbau des „Rheinkai 500“ daran, dass hier früher Speicherhäuser standen. Ins Auge fällt das Kunstwerk „Nomade“ des Mexikaners Gustavo Aceves. Die 1,2 Tonnen schwere Pferde-Skulptur aus Bronze mit freigelegten Rippen steht in einem Ausschnitt des Hauses. Dieses „Loch“ lässt mich an die Regeln der Feng Shui-Harmonielehre: Positive Energie soll ungehindert fließen. Hier spiegelt das Sichtfenster vielmehr eine architektonische Besonderheit der gesamten Neustadt wider: Freie Blickachsen, wie hier auf den Rhein.
Inspiriert von der Stadt der Liebe
Zur Einordnung lasst uns kurz auf die Geschichte zurückblicken: Ende des 19. Jahrhunderts zählte Mainz zu den bevölkerungsreichsten Städten der Region und platzte, eingeengt durch Festungsmauern, aus allen Nähten. Die Lösung für neue Wohnungen und die wirtschaftliche Entwicklung sah der Stadtrat in einer Erweiterung auf das einstige „Gartenfeld“ (oder „Gaadefeld“, wie die Mainzer sagten). Mit der Planung des neuen Viertels beauftragte die Stadt den Baumeister Eduard Kreyßig. Der „Vater der Neustadt“ ließ sich für seine Ideen von Paris inspirieren. So sah sein Konzept ein gitterförmiges Straßensystem mit Blickachsen in Längs- und Quer-Richtung vor. Die Straßen, teils prächtige Boulevards, münden strahlenförmig in zentrale Plätze.
Bis die Arbeiten begonnen werden konnten, verging einige Zeit. Denn damals war das preußische Kriegsministerium für solch eine Genehmigung zuständig. Die Erlaubnis kam am 21. September 1872. Dieser Startschuss für die Umsetzung markiert also die Geburtsstunde der Neustadt vor jetzt 151 Jahren. In der damaligen Zeit war es das größte Stadterweiterungs-Projekt Europas. Auch den ursprünglichen Zoll- und Binnenhafen hat Eduard Kreyßig in den 30 Jahren seiner Amtszeit als „Geheimer Baurat“ (so sein Titel) gestaltet.
Goldene Fassaden und ein schiefer Turm
Damit kehren wir zurück ins Heute. Am Hafen taucht links ein besonders markantes Gebäude auf. Wo früher die größte Lagerhalle stand, blinken heute gold-farbige Fassaden. Die rautenförmigen Platten verschalen das Pandion Doxx, dessen Grundriss die Form eines Doppel-X hat (daher der Name). Manche erinnert das an drei Seiten von Wasser umgebene Haus ein bisschen an ein Ufo.
Ebenfalls auf historischem Gelände – dem früheren Maschinen- und Kesselhaus – steht die Kunsthalle. Ihr 21 Meter hoher, grüner Glasturm neigt sich um sieben Grad – daher heißt er auch „Schiefer Turm von Mainz“. Er soll an die alten Schlote erinnern und gleichzeitig ein markantes Eingangstor zum Hafen darstellen. Im Backstein-Gebäude selbst zeigt die Kunsthalle in wechselnden Ausstellungen internationale und zeitgenössische Kunst. Sie will damit künstlerische Positionen zu aktuellen Themen in Kunst, Politik und Gesellschaft vermitteln.
Grüne Brücke und Segensspruch-Architektur
Die viel befahrene Rheinallee überqueren wir auf einer städtebaulichen Besonderheit: Die parkähnliche Grüne Brücke. Auf ihr sorgen zahlreiche Pflanzen und Büsche dafür, dass sie ihrem Namen gerecht wird. Entworfen hat sie der Umweltkünstler Dieter Magnus, der für seine Idee sogar das Bundesverdienstkreuz erhielt. Die Pflege der Beete übernimmt der NABU im Rahmen einer Patenschaft. Den Kindern gefallen besonders ein Wasserfall und der „Findlingsbrunnen“. Die Brücke ist – ganz nach Kreyßigs Konzept – Teil einer “grünen Achse zum Rhein”. Diese reicht vom Fluss über den Feldbergplatz zur Brücke und auf der anderen Seite bis zum Goetheplatz.
Als auffälliges, architektonisches Kunstwerk erhebt sich einige Straßen weiter die neue Mainzer Synagoge, der Sitz der Jüdischen Gemeinte. Die einzelnen Teile des 2010 eröffneten Gebäudes „schreiben“ die Buchstaben des hebräischen Worts „Kedushah“ in den Himmel – ein Segensspruch, der „Heilung“ bedeutet. Je nach Lichteinfall schimmern die grünen Keramik-Kacheln der Fassade in einem anderen Ton. Auf dem in Synagogenplatz umbenannten Standort erinnern Säulen-Fragmente an den Vorgängerbau, der zerstört wurde.
Meine Stadt lebt!
Das „Herz“ der Neustadt liegt zwischen Boppstraße, Frauenlobplatz und Gartenfeldplatz. Dort und auf den Verbindungsstraßen gibt es die meisten kleinen Läden, Cafés und Kneipen. Belebt sind vor allem die Plätze, teils mit Rasenflächen oder Spielplatz. Auf dem Frauenlobplatz findet an jedem Donnerstag zwischen 7 bis 13 Uhr ein Markt statt.
Stehen geblieben sind wir bei Klotz + Quer. Das Unternehmen bezeichnet sich als Upcycling Möbel Design Office mit eigener Möbellinie und Workshops, die das Selbermachen ermöglichen. „Meine Stadt lebt“ ist in ihrem Schaufenster zu lesen. Wenn wir uns umblicken: Sie haben so recht!
Multikulti auch in der Gastronomie
Groß und vielfältig ist das kulinarische Angebot der Neustadt. Diese Beispiele sind uns besonders aufgefallen – und es gibt viele mehr:
Der Goldene Hirsch kocht nach alten Familienrezepten – beispielsweise Rinderroulade nach Großmutter Emmas Rezept. Gute Tropfen und “modernes Geschmackserlebnis in Mainzer Tradition” serviert das Traditionshaus Geberts Weinstube. Wegen ihres historischen Ambientes darf die Turmschänke Caponniere nur kalte Speise auf die Karte nehmen – dafür ist die Lage direkt am Rhein umso schöner. In der Neustadt-Apotheke sind heute üppige Kuchenstücke und reichlich belegte Brote die beste Medizin. Die Bierbar Teilchen & Beschleuniger würzt mit Gerstensaft auch manches Essen.
Vegetarisch und teils vegan kommen die Kumbir (Kartoffeln) mit verschiedenen Zutaten oder das Soja-Gyros des Schrebergartens daher Ebenfalls veganen, teils sogar zucker- und glutenfreien Köstlichkeiten verschrieben hat sich das Möhren-Milieu.
Besonders lecker beim Vietnamesen An o Ban sind montags und dienstags die Bao Buns, gedämpfte Brötchen mit schmackhaftem Innenleben. Die vielseitigen Poke Bowls des hawaiianischen Nanami zeigen ebenfalls asiatische Einflüsse. Auf eine kulinarische Reise nach Südamerika nehmen das EO und das chilenische Patagonia mit.
In der schnuckeligen Vintage-Atmosphäre des Café Annabatterie hat Konditoren-Meisterin Gesa Kohlenbach ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ihre Kuchen sowie Aufstriche, Buttermischungen und Granola sind selbst gemacht. In Handarbeit und möglichst mit regionalen Zutaten hergestellt wird auch das Eis im N´Eis, dem Neustadteis. Die Sorten wechseln täglich, darunter Ausgefallenes wie Yoghurt-Gurke, Avocado-Cashew oder Pistazie-Fleur de Sel.
Frikadellen und ein Frauen-Lober
Kultstatus hat “Beim Peter”, die Metzgerei mit Imbiss von Peter Leussler. Seine legendären Frikadellen stehen für uns bei jedem Besuch der Neustadt auf dem Einkaufszettel. Für die Specail Edition füllt er die Fleischklöpse entweder mit Handkäse oder Fleischwurst. Gleich nebenan gibt´s Back-Spezialitäten in einer Filiale des Brot-Sommeliers Mario Peter Berg.
Zum Abschluss, zurück am Rhein, ein Blick auf den Frauenlob-Brunnen. Er erinnert an den Minnesänger Heinrich von Meisen, der zu Lebzeiten im 14. Jahrhundert Lobeslieder auf das weibliche Geschlecht gedichtet haben soll. Dies brachte ihm den Namen Frauenlob ein. Die Überlieferung sagt, dass sogar seine Sargträger Mainzer Frauen waren. Die Neustadt birgt viele Geschichten.
Geführt durch die Neustadt
Zu den Anbietern von Touren durch die Neustadt zählen:
Best of Mainz der Insiderin Stefanie Jung, z.B. ein Photowalk.
Eat the World, kulinarische Rundgänge
Mainz Guide, Wein + Kulinarik, z.B. mit kulinarisch-historischer Reise
Geographie für Alle e.V. bündelt verschiedene Führer und Themen
Eine Antwort
Liebe Marina,
Auf der Suche nach “ was machen wir am Geburtstag meiner Schwester“ bin ich auf Deine
Tour „Jung und bunt durch die Mainzer Neustadt“ gestoßen.
Obwohl in Frankfurt und Hofheim wohnend kommen wir beide immer gerne wieder nach
Mainz zum bummeln, flanieren am Rhein und um gastronomisch Neues kennenzulernen.
Deine Tour bietet von Allem etwas!!!!.
Dein Beitrag mit persönlicher Note ist sehr anregend und vielfältig geschrieben, dass dieser Lust macht sofort auf Entdeckungstour zu gehen.
Gestern haben wir uns bei 32 Grad auf den Weg gemacht und waren sehr positiv überrascht, was die Mainzer Neustadt alles zu bieten hat.
Faszinierend die Mischung aus Alt und Neu im ehemaligen Zollhafen, wunderschöne alte gepflegte Häuser in der Mainzer Neustadt und die gastronomische Vielfalt ist hervorragend.
Wir haben fast alles ausprobiert; eben nur fast, weil man in vier Stunden nicht so viel essen und trinken kann. Fazit: wir kommen wieder!!!!“
Mit herzlichen Grüßen Kornelia