Vom Heiligen Land nach Rheinhessen?
Die „Heidenturmkirchen“ sind – der Name verrät es schon – wegen ihrer einzigartigen, orientalisch anmutenden Turmformen und -bekrönungen berühmt. Warum sie so speziell aussehen, kann man heutzutage tatsächlich nicht zweifelsfrei sagen. Es gibt aber zwei geheimnisumwobene und eine eher nüchterne Theorie.
Die Türme aller vier Kirchen sind in der Zeit nach dem Ersten Kreuzzug entstanden, zu dem Papst Urban II. im Jahr 1095 aufrief und der 1099 mit der Einnahme Jerusalems endete. Es ist also möglich, dass die bauhistorischen Schmuckstücke Siegesbotschaften heimgekehrter Kreuzfahrer sind, die sie zum Andenken an die „Befreiung“ des Heiligen Landes errichtet haben – inspiriert von der dortigen, für sie heidnischen Architektur.
Die zweite Theorie geht sogar noch etwas weiter. Als Gedenken an ihre Wallfahrt zum Grab Jesu haben die Kreuzritter die Türme als Replik der heiligen Grabeskirche erbaut, die heute in ihrer damaligen Form nicht mehr existiert. Sollte das stimmen, wäre eine Vorstellung der einstigen Architektur der Grabeskirche in den vier rheinhessischen Nachbauten erhalten.
Eine dritte Theorie könnte alle Schwärmer ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Jüngste Bauforschungen deuten an, dass es sich bei den Türmen „nur“ um eine sehr alte Wormser Bautradition handeln könnte. Da die Kirchtürme im Volksmund aber seit geraumer Zeit „Heidentürme“ oder „Sarazenentürme“ heißen und ihnen ihr orientalisches Aussehen nicht abzusprechen ist, ist man sich auch dabei nicht sicher.
Welche Theorie auch immer stimmen mag, geheimnisvoll ist ein Besuch der vier besonderen Stätten allemal!
Heidenturmkirche Guntersblum
Meine orientalische Reise durch Rheinhessen beginnt im lebendigen Weindorf Guntersblum. Auf dem schönen Vorplatz der Evangelischen Kirche werfe ich einen ersten Blick nach oben. Tatsächlich habe ich so eigenartige Kirchtürme noch nie zuvor gesehen. Es sieht fast so aus, als würde auf beiden Türmen jeweils noch eine kleine Miniatur-Kirche stehen.
Horst Dehmel, Guntersblumer Heimatforscher mit kirchlichen Wurzeln, erzählt mir, dass der Nordturm der Kirche das älteste erhaltene Bauwerk von Guntersblum ist; der Südturm ist 1702 eingestürzt und wurde erst 1842 formgetreu wiederaufgebaut. Wie alt ist aber das Original? Im Rahmen einer großen Renovierung in den Jahren 2003 und 2004 hat man den Turmbalken Proben entnommen. Deren Untersuchung ergab, dass der verarbeitete Baum im Frühsommer 1101 gefällt wurde, also genau in der Zeit nach dem Ersten Kreuzzug.
Dehmel erinnert sich, während der Renovierung selber im Inneren des Turmes „herumgekraxelt“ zu sein. Als Amateurfotograf könne man sich diese einmalige Chance schließlich nicht entgehen lassen. „Zwischen den alten Balken spürt man den Hauch des Mittelalters“, schwärmt er. Bis heute ist das eine seiner schönsten Erinnerungen im Zusammenhang mit der Heidenturmkirche in Guntersblum – natürlich neben seiner Hochzeit.
Wir schauen uns auch das Innere der Kirche an. Sie passt gut zu einem Weindorf. Der aufwendig gestaltete Messingleuchter mit Weinlaubmotiven aus dem Jahr 1880 zeugt von der Bedeutung des Weinbaus für die Gläubigen in Guntersblum, die Sockelbemalung enthält ebenfalls Weinsymbole. Horst Dehmel findet das sehr gelungen, denn auch in der Bibel finden sich viele Weinmotive.
Zum Abschluss erzählt er mir auf dem Kirchplatz noch eine schöne Anekdote. Wer in Guntersblum wohnt, der muss nicht nach Pisa fahren, denn einen „schiefen Turm“ hat man hier auch. Tatsächlich hat der Nordturm einen (jetzt auch für mich) erkennbaren Schiefstand, der vor allem über die Flucht der beiden Türme auffällt. Wie gut, dass er deshalb ganz besonders verankert ist!
Heidenturmkirche Alsheim
Als nächstes steuere ich die Evangelische Kirche St. Bonifatius in Alsheim an. Alle vier Heidenturmkirchen liegen in einem Umkreis von 20 Kilometern, sodass man sie wunderbar an einem Tag besichtigen kann. Sie ist die kleinste der vier und liegt etwas versteckt in einem wunderschönen alten Friedhofpark.
Ich öffne das schmiedeeiserne Tor und betrete eine andere Welt – irgendwie ruhiger, besinnlicher und verwunschener. Allein auf dem Friedhof, der heutzutage nicht mehr für Beerdigungen genutzt wird, könnte ich mich stundenlang aufhalten. Der alte Baumbestand spendet an einem heißen Tag wie heute kühlen Schatten. Ich betrachte Grabsteine, die bis ins 19. Jahrhundert zurückdatieren. Manche von ihnen sind mit Efeu oder Rosen bewachsen, andere schon halb in der Erde versunken.
Natürlich bin ich aber wegen dem Heidenturm hier. Anders als in Guntersblum besitzt die Alsheimer Kirche nur einen. Auch er weist die charakteristische Form des sogenannten „Kreuzfahrerhelms“ auf, unterscheidet sich in anderen Merkmalen aber doch deutlich von den Guntersblumer Türmen. Jede Heidenturmkirche ist einzigartig!
Die Kirche selbst ist klein, aber bezaubernd. Wenn sie nicht geöffnet ist, kann man übrigens gerne nach dem Schlüssel im Pfarrhaus fragen. Es lohnt sich, denn sie ist ein kleines Juwel!
Heidenturmkirche Dittelsheim-Heßloch
Nicht weit von Alsheim liegt Dittelsheim-Heßloch. Die Evangelische Kirche ist hier nicht zu übersehen und der Heidenturm in strahlendem Weiß schon von Weitem erkennbar. Er gilt als schönster der vier Türme. Ich weiß allerdings nicht, ob ich mich da entscheiden könnte – und noch habe ich ja auch nicht alle gesehen.
Ich treffe Gerd Rothfuß, den ersten Vorsitzenden der Kirchengemeinde, und könnte damit keinen besseren Kirchenführer gefunden haben. Er hat sich mit Leib und Seele seiner Gemeinde verschrieben und kann unzählige Geschichten erzählen. Zum Beispiel, dass der besondere Kirchturm, der über viele Jahrhunderte immer wieder mit großem Engagement erhalten wurde, immer mehr Besucher anzieht. Aus diesem Grund kann man sich in Dittelsheim-Heßloch kleine Modelle aller vier Kirchtürme ansehen und so besonders gut Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen.
Gerd Rothfuß zeigt mir die Christusskulptur, die in der Mitte der Kirche hängt. Von weitem denke ich, sie stellt Jesus am Kreuz dar. Als ich nähertrete, offenbart sich aber ein „lebendiger Jesus“, der seine Arme offen und einladend ausbreitet. Für ihn ist diese Skulptur das schönste an der Kirche, sogar noch vor dem einzigartigen Heidenturm und der wertvollen Altarbibel von 1765. Der Wormser Bildhauer Gustav Nonnenmacher hat sie in den Nachkriegsjahren geschnitzt und wurde dafür – wie sollte es in Rheinhessen anders sein – mit einem Fass Wein entlohnt.
Heidenturmkirche Worms
Zum Abschluss meiner orientalischen Reise durch Rheinhessen fahre ich nach Worms. Die vierte Heidenturmkirche ist gleichzeitig die einzig katholische und sogar Dominikanerkloster mit Noviziat. Leider sind die beiden Türme von St. Paulus während meines Besuchs eingerüstet. Ich kann aber trotzdem erkennen, dass sie wiederum ein wenig anders aussehen.
Pater Laurentius Höhn, Novizenmeister des Wormser Konvents, fasst die wechselvolle Geschichte der Heidenturmkirche immer gerne mit „Welt – Kirche – Welt – Kirche“ zusammen. Ursprünglich war die Anlage eine Burg der salischen Grafen bevor sie 1002 zum Paulusstift geweiht wurde. Daraufhin begann der Bau der berühmten Doppeltürme, die 1105 (Südturm) und 1108 (Nordturm) mit den markanten steinernen Kuppelhelmen gekrönt wurden.
Im Rahmen der Säkularisation durch Napoleon wurde das Stift jahrzehntelang als Lagerraum und Werkstatt genutzt. 1881 zog das Paulusmuseum in die ehrwürdigen Mauern. Der imposante Türflügel der Kirche wurde übrigens in dieser „weltlichen“ Zeit hinzugefügt und ist eine Kopie der Bernwardstüren des Hildesheimer Doms. Schließlich zog das Museum 1929 in das Andreasstift und die Heidenturmkirche wurde Dominikanerkloster.
Im Inneren der Kirche zeigt mir Pater Laurentius, wo er sich am liebsten aufhält: die romanische Apsis hinter dem barocken Hochaltar, ein besonderes Kleinod, das für Gottesdienste in kleinerem Rahmen oder einfach ein stilles Gebet dient.
Mir gefällt nur der zauberhafte Innenhof des Klosters noch ein wenig besser, eine grüne Oase der Ruhe inmitten der quirligen Stadt. Hier blühen die unterschiedlichsten Blumen, Efeu rankt sich entlang der Klostermauern und in der Mitte plätschert ein Brunnen. Normalerweise ist der Innenhof nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Es gibt allerdings immer wieder Veranstaltungen, die hier stattfinden, und somit einen Blick hinter die Kulissen des Klosters ermöglichen. Es lohnt sich!
2 Antworten
Hat nicht Gau-Bickelheim auch eine “Heidenturmkirche”? Dann wären es ja 5 Kirchen in Rheinhessen mit dieser Art von Turmdächern.
Heidenturmkirchen sind eine echte Seltenheit in Deutschland, ein Glück, dass gleich vier davon in Rheinhessen stehen, mehr sind es aber leider nicht. Einen guten Einblick über die Historie der Heidenturmkirchen erhalten Sie u.a. hier: https://www.regionalgeschichte.net/rheinhessen/rundgaenge/heidentuerme-in-rheinhessen.html